Zum Leserbrief „Verordnete Scham“ von Meinhard Träger im Altmühlboten des 9.Mai 2014

Es gäbe soviel zu kritisieren an Herrn Trägers Leserbrief, doch soll einstweilen nur das Schlimmste angesprochen werden: die implizierte Forderung nach dem Schlussstrich; die Forderung, der Erinnerung an die nationalsozialistische Barbarei ein Ende zu bereiten, der geschichtlichen Singularität, der Shoah, nicht mehr zu gedenken, das Menschheitsverbrechen Holocaust als Teil der deutschen Geschichte doch endlich ad acta zu legen, da die jetzige Generation keine Schuld mehr trage. Schuld ist nicht vererbbar, also können heutige Generationen auch keine Verantwortung am nationalsozialistischen „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) haben.

Aber sie sind die Nachkommen derer, die sich Schuld aufgeladen haben. Nicht nur die Schuld, Juden und Jüdinnen ermordet zu haben, weil man den antisemitischen Wahn der Nazis teilte und befürwortete; sondern auch die Schuld, weggesehen zu haben, die Schuld, jüdische Geschäfte boykottiert zu haben, die Schuld, die jüdischen Nachbarn denunziert zu haben, die Schuld, sich am Raubgut der Wehrmacht und an den enteigneten Waren von Jüdinnen und Juden bereichert zu haben, die Schuld, von Hitler begeistert gewesen zu sein, die Schuld, die NSDAP gewählt zu haben oder die Schuld, zu alldem einfach nur geschwiegen zu haben, die Schuld, den einfachen Weg aus Befehl und Gehorsam gegangen zu sein und den Befehl nicht verweigert zu haben, die Schuld, die über 40.000 Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis nicht gesehen haben zu wollen.

Diese Aufzählung, die Totalität der Schuld ist verstörend, weil sie für uns nicht fass- und greifbar, ja nicht einmal vorstellbar ist. Und weil sie uns erahnen lässt, dass unsere Urgroßeltern, unsere Großeltern und Eltern, unsere Familien nicht frei von Schuld sind, sondern sich auf die eine oder andere Weise schuldig gemacht haben.

Diese Wahrheit ist verstörend. Weil sie uns erahnen lässt, dass wir die Geschichte nicht aufgearbeitet haben. Dass wir unsere Lektion nicht gelernt haben und dass sich in Deutschland „so etwas“ wiederholen kann. Wir erahnen dies bereits, wenn wir die unmittelbaren Nachkriegsereignisse betrachten; die Betrügereien der Schuldigen während der Entnazifizierungskampagne; die Gleichgültigkeit eines Konrad Adenauers, der Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, in politische Ämter zurückholte; die jahrelang ausbleibende juristische Verfolgung der Täterinnen und Täter; das nur durch massiven außenpolitischen Druck geschlossene und nur mit einer knappen Mehrheit im Deutschen Bundestag ratifizierte Luxemburger Abkommen, das die nötig gewordenen  Entschädigungsleistungen für  Israel regelte, als der Staat der Holocaustüberlebenden durch die Aufnahme der von den Nazis verfolgten Jüdinnen und Juden kurz vor dem finanziellen Ruin stand.

Die Bedingung dafür, etwas aus der Geschichte lernen zu können, hat der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in seiner Rede zum 75. Jahrestag der Pogromnacht in Bremen skizziert: „Erst dann, wenn man den Bann des Vergangenen durch „helles Bewusstsein“ breche, wie Adorno sagte, erst dann werde es möglich, das Vergangene im Ernst zu verarbeiten. Nur: wir tappen bis heute im Dunkel. Im tiefsten Dunkel. Die allgegenwärtige Versicherung, man habe ja aus der Vergangenheit gelernt, beteuert nur eines: eben dies nicht getan zu haben. Nicht die Nachgeborenen können in selbstherrlicher Zufriedenheit stets aufs Neue beteuern, dass sie gelernt hätten und es deshalb nun einmal gut sein müsse“.

Wir müssen zunächst lernen die Verstörung zu ertragen, sie nicht wegzustoßen, sie nicht zu verdrängen. Nicht einen Schlussstrich zu fordern, damit uns die Verstörung nicht mehr treffen kann. Wir müssen lernen die Verstörung anzunehmen.

Erst dann können wir erkennen, dass eines der  Probleme nach wie vor Antisemitismus heißt. Dass er noch ganz offen ausgesprochen wird. Dass dieser sich lediglich transformiert hat und nun im Mantel der Israelkritik daherkommt. Oder dass der Antisemitismus in ganz anderer Gestalt auftritt, wie es z.B. Andreas Zick und  Beate Küpper in ihrer Expertise an den Expertenkreis Antisemitismus der Bundesregierung 2011 festgehalten haben: „Unzweifelhaft ist auch der antisemitische Charakter der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit. Wer angibt, sich darüber zu ärgern, „dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen gegen die Juden vorgehalten werden“, vertritt zwar nicht unbedingt traditionellen Antisemitismus, unterstellt Juden aber deutlich häufiger eine Vorteilnahme und scheut auch keinen NS-Vergleich von Israel. D.h. diese Personen drücken ihren Antisemitismus vorzugsweise über eine Umkehr von Opfer und Täter aus, offenbar nicht zuletzt deshalb, um selbst weniger Verantwortung für die Erinnerung der Vergangenheit übernehmen zu müssen“.

Oder, um das Schlusswort wieder Samuel Salzborn zu übergeben: „Es ist nicht an uns, unsere ungleich einfachere und immer letztlich doch erträgliche Hypothek der Erinnerung denen noch mit Schuldvorwürfen zu beladen, die die Barbarei erlebt – und vielfach nicht überlebt haben“.

Christopher Gruber für den Sprecherrat des Landkreisbündnis gegen Rechts Weißenburg-Gunzenhausen

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